Diesmal veröffentliche eine Kolumne von Matthias Horx zur Ukraine-Krise in Text- und Audioform. Mir hat es gut getan, den Beitrag zu lesen. Ich habe darin eine Erklärung für meine Zerrissenheit bezüglich der Maßnahmen gefunden, auf welche militärische Art die Ukraine unterstützt werden sollte, aber auch Hoffnung, dass sich ein derartiger Angriffskrieg langfristig immer zu einer Niederlage für den Aggressor herausstellen wird. Vielleicht hilft es Dir auch.
Der nachfolgende Text stammt aus der Zukunfts-Kolumne von
Matthias Horx:
www.horx.com/die-zukunfts-kolumne
Siehe auch: www.zukunftsinstitut.de.
Kann die Ukraine tatsächlich diesen Krieg „gewinnen“?
Über politische Klugheit und die Weisheit der Zukunft.
„Wenn du dich und den Feind kennst, brauchst du
den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten.
Wenn du dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für
jeden Sieg, den du erringst, eine Niederlage erleiden.
Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder
Schlacht unterliegen.“
— Sun Tzu, Die Kunst des Krieges
1. Die Botschaft des Dr. Seltsam
Vor knapp sieben Jahren, im Juli 2015, kam es in Wladimir Putins Staatsresidenz, 30 Kilometer vor Moskau, zu einer denkwürdigen Begegnung. Oliver Stone, der Regisseur des amerikanischen Moral-Humanismus, Vietnam-Veteran und Regisseur von Filmen wie Platoon oder JFK, drehte einen Dokumentarfilm über den Staatsmann Putin.
Um sich ihm zu nähern, führte er dem heutigen russischen
Diktator einen Film vor.
Der Film hieß „Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu
lieben.“ Ein Meisterwerk von Stanley Kubrick aus dem Jahr 1964.
Und das beste: Oliver Stone filmte die
Reaktionen Putins:
www.irishtimes.com
In Kubrick‘s Apokalypse-Komödie kommt ein halbverrückter Spieltheoretiker und „Prophet“ mit seltsamem Akzent vor (Dr. Seltsam, gespielt von Peter Sellers). Dr. Seltsam weiß alles über die Zukunft, und weil er alles weiß, ist er verrückt geworden. Eine weitere Schlüsselrolle spielt ein amerikanischer General, der besessen ist von der Idee, die Kommunisten hätten chemische Substanzen ins Trinkwasser gemixt, um die „bodily fluids“ der Amerikaner zu verderben. Männer werden dadurch impotent.
Querdenker gab es auch damals schon. Nicht nur im Film wimmelte
es von Verschwörungsdenkern.
Im Plot von „Dr. Seltsam“ wird das Konzept der nuklearen
Abschreckung durch einen „system flaw“ – einen idiotischen Zufall –
ausgehebelt. Die Strategen des CIA haben „zufällig“ vergessen, der
russischen Gegenseite mitzuteilen, dass sie eine DOOMSDAY-Maschine
konstruiert haben. Einen automatischen Startmechanismus der
Atomraketen für den Fall eines Angriffs. Falls der Präsident zögern
sollte, den roten Knopf zu drücken, werden alle Raketen und Bomber
im Fall eines Angriffs unverzüglich auf RED ALERT und Abschuss
gestellt.
Deshalb lässt sich ein Irrtum nicht mehr korrigieren.
Am Schluss reitet ein amerikanischer Bomberpilot juchzend auf einer
Wasserstoffbombe auf Russlands Boden zu. Er sieht die Bombe als ein
wildes Pferd, das er zähmen muss.
Das Narrativ des Cowboys, eines uramerikanischen Motivs.
Putin fiel zu dem Film irgendwie nicht viel ein. „Es gibt einiges in dem Film, was uns nachdenklich macht…“, sagte er im anschließenden Gespräch. „Eigentlich hat sich ja seitdem nicht viel verändert… Es ist heute noch schwieriger und gefährlicher solche Waffensysteme zu kontrollieren…“
Beim Abgang überreicht Stone Putin einen Umschlag mit der DVD
des Films. Putin tritt durch eine Tür, öffnet den Umschlag, und
kommt noch einmal zurück.
„Typisches amerikanisches Geschenk! Nichts drin!“
Er hält die leere Hülle der DVD in den Händen.
Oliver Stone entschuldigt sich und holt die DVD aus dem
Abspielgerät.
Man verabschiedet sich.
2. Schwere Waffen
Kann die Ukraine diesen Krieg wirklich gewinnen?
Darüber bilden sich jetzt in Medien, Köpfen, Gefühlen rasch neue
Deutungs-Mehrheiten.
Die russische Offensive, so heißt es, hat sich vor den Toren Kiews
festgelaufen.
Putin hat sich „verkalkuliert“.
Wir müssen den Ukrainern einfach SCHWERE WAFFEN liefern! Das ist
das GEBOT der Stunde!
Dann können sie diesen Krieg gewinnen.
All das klingt betörend. Einfach. Geboten eben. Aus moralischen,
kriegstaktischen Gründen. Aus dem Recht auf Selbstverteidigung
heraus. Auch aus Scham und Schuldgefühl: „Wie konnten wir nur
solange stumm zusehen!?“
Wer, außer den rechten Populisten und den wackeren
Friedens-Fundamentalisten, möchte das nicht: Dass die tapferen
Ukrainer, die auch für unsere Freiheit kämpfen, den Usurpator
besiegen?
Aber was ist das überhaupt?
Siegen?
3. Das Abschreckungs-Paradox
In Los Alamos, dem Zentrum der amerikanischen Bombenforschung,
war die Atombombe in den letzten Kriegsjahren unter ungeheurem
Aufwand von Geist und Geld als ein Instrument erfunden worden,
grausame Massen-Kriege für immer zu beenden (siehe dazu die
ergreifende Serie „Manhattan“, bei Amazon Prime).
www.amazon.de/Manhattan-Staffel-1-dt-OV
Führend bei der Entwicklung dieser Massenvernichtungswaffe, waren Wissenschaftler, die den „killing fields” Europas entkommen waren. Ungarische Mathematiker. Jüdische Emigranten, die ihre Verwandten in den Nazi-Konzentrationslagern verloren hatten, nicht wenige von ihnen aus dem Gebiet, der heutigen Ukraine. Physiker, die dem linken Humanismus nahestanden, wie Edward Teller. Einige dieser Wissenschaftler gingen von Los Alamos direkt hinüber ins Lager der Spieltheoretiker, etwa John von Neumann, ein genialerer Kybernetiker und Quantenphysiker (siehe auch meine Kolumne „Future War“).
In den frühen 60er Jahren erarbeiteten die Spieltheoretiker in
den amerikanischen Think-Tanks das Konzept der nuklearen
Abschreckung. Ein regelbasiertes Spiel, das den Untergang der
Menschheit durch die Möglichkeit des Untergangs verhindern
sollte.
Wenn beide Parteien den anderen vernichten können.
Und beide Parteien WISSEN, dass ein Erstschlag durch einen umso
vernichtenderen Zweitschlag beantwortet wird.
Wird keiner mit der Weltzerstörung anfangen.
Auch mörderische konventionelle Kriege, wie in den zwei
Weltkriegen, könnten so vermieden werden.
Denn die könnten ja jederzeit eskalieren.
Allerdings verhedderten sich die Spieltheoretiker im Laufe ihrer Arbeit in immer mehr Paradoxien. Je mehr sie rechneten und rechneten, modellierten und modellierten, umso weniger ging ihre Rechnung vom „Gleichgewicht des Schreckens“ auf.
Was Kubricks Dr. Seltsam auf den Punkt brachte, offenbarte sich
immer deutlicher:
Gleichgewichte des Schreckens funktionieren nur bei perfekter
Information.
Und: Es kommt vor allem auf die KOMMUNIKATION an, ob ein
Regelsystem hält.
Information kann jedoch ebenso wenig „perfekt“ sein wie
Kommunikation. Beides ist störanfällig, manipulierbar, verrauscht.
Und hängt letztlich vom menschlichen Willen ab.
Wenn Information und Kommunikation chaotisch werden, fällt man
leicht in Verschwörungswahn und tief eingelernte Reflexe
zurück.
Etwa in den Cowboy-Wahn.
Die Idee, die ganze Welt befreien und zähmen zu müssen.
Oder den Zaren-Wahn.
Die Vorstellung, das größte, beste und mächtigste Großreich aller
Zeiten besitzen zu wollen.
4. Der Ernstfall-Test
Im ersten großen Test der nuklearen Abschreckung, in der
Kuba-Krise von 1962, zwei Jahre bevor Kubrick seine Satire
veröffentlichte, saßen Spieltheoretiker wie Thomas C. Schelling im
Krisenstab des US-Präsidenten.
Siehe Tim Hartford, Logic of Life S. 36 ff S. 51
John F. Kennedy vermied durch seinen hellen Geist vor allem EINEN Fehler: Die Entscheidungen den Militärs zu überlassen, die ständig auf den Einsatz „ihrer Kapazitäten“ drängten. (siehe den Film „Thirteen Days“ von 2000). Die Kennedy-Administration legte großen Welt auf das rote Telefon, die Direktverbindung zum Kreml (so wie heute wieder das US-Verteidigungsministerium in der Ukraine-Krise).
Die Kuba-Krise wurde beigelegt, indem ein „Hidden Deal“
geschlossen wurde. Die UdSSR zog ihre Atomraketen aus Kuba ab, und
die USA ihre Atomraketen aus der Türkei. Wichtig war, dass die
Einzelheiten des Deals nie veröffentlicht wurden. Die Welt wurde in
aller Diskretion, ohne Beteiligung der öffentlichen Medien und des
Propagandaapparates, gerettet.
Es gibt so etwas wie die Weisheit des Schweigens.
5. Das Gesetz von Kraft und Gegenkraft
Die Ukraine hat in diesem Krieg ein Momentum genutzt, das in der
Kriegsgeschichte wohlbekannt ist. Das Phänomen des
KULMINATIONSPUNKTS DES ANGRIFFS.
Der Historiker Wolfgang Schivelbusch beschreibt
dieses Phänomen in seinem Buch „Rückzug – Geschichten eines Tabus“.
Es gibt in der Militärgeschichte viele grandiose Siege, die sich im
Moment ihres Eintretens in Niederlagen verwandelten. In
katastrophische Erfolge. Etwa Napoleons Eroberung Moskaus im Jahr
1812. Als die Grande Armee nach 3.000 Kilometern Fußmarsch mit
Fanfarenklängen in die Stadt einzog, ohne nennenswerten Widerstand,
war die Stadt leer. Kein Gegner in Sicht. Leere Straßen.
Verrammelte Fenster.
Die Folge war: Ratlosigkeit. Mit allem konnte der Oberstratege
Napoleon umgehen, außer dem Mangel eines Gegners. Dann brannten
auch noch Teile der Stadt. Chaos brach aus, die Moral der
französischen Truppen zerfiel. Napoleons Schicksal war
besiegelt.
Schivelbusch beschreibt diesen Effekt der Sieges-Niederlage auch
am Beispiel zweier Entscheidungsschlachten der Weltkriege, an der
Marne und in Dünkirchen. Im Ersten Weltkrieg waren es die Pariser
Taxifahrer, welche die französischen Soldaten zur Front fuhren, wo
sie die deutsche Offensive an der Marne zu Stillstand brachten. Die
Frontbeobachter berichteten schon stolz davon, dass sie in ihren
Feldstechern Notre Dame sehen konnten. Im Zweiten Weltkrieg kam es
nach dem Rückzug der englischen Armee zu einer Reorganisation des
weltweiten Widerstands gegen Hitler.
Ähnlich war es auch in Vietnam. Im Irak. Und in Afghanistan. Und
eben auch jetzt in der Ukraine.
„Im Moment des Angriffs mag mag der Angreifer im Vorteil sein, wenn er mit überlegenen Kräften angreift. Weil er das Überraschungsmoment und die Wucht des ersten Schlages auf seiner Seite hat. Doch dieser Vorteil ist von kurzer Dauer. Nach dem Prinzip des Stundenglases oder der kommunizierenden Röhren, kommt die Energie, die der Angreifer durch FRIKTION verliert, dem Verteidiger zugute. Dieser braucht nur warten, bis sich das Kräfteverhältnis umkehrt.“
Das nennt Clausewitz den Kulminationspunkt des Scheiterns. Clausewitz spricht vom „Zurückgeben des Stoßes“ – “die Gewalt eines Rückstoßes ist gewöhnlich viel größer, als die Kraft des Vorstoßes war. Der Affekt (oder Reflex) der Vergeltung vermag Energiereserven zu mobilisieren, über die der Angreifer nicht mehr verfügt.” (Schivelbusch S. 66).
Eine kleine Einführung in die systemisch-dynamische Spieltheorie
Die fundamentale Spieltheorie sagt uns, dass es in unserem Universum DREI Arten von „Spielen“ gibt. Diese Abläufe beschreiben sowohl die Logik des Lebens, der Evolution, der Zivilisation, wie auch menschlicher Kommunikationsprozesse.
- Win-Win-Spiele, in denen beide – oder mehrere Parteien – gegenseitige Vorteile generieren. Echte Kooperation, fairer Handel, sinnvolle Arbeitsteilung, Vertrauen, Zuneigung, Liebe, ökologische Vielfalt – all das erzeugt systemische Überschüsse, die grösser sind als die Summe der Investitionen. Durch NON-ZERO-SUM-Games, „Nichtnullsummenspiele“, wird die Welt dauerhaft bereichert. Der Komplexität wird etwas hinzugefügt. Man könnte auch sagen: Fortschritt entsteht.
- Win-Lose-Spiele, in denen EINE Partei verlieren muss, wenn die andere gewinnt. Bei Tennis etwa, siehe Boris Becker, gibt es immer nur einen Gewinner, der alle anderen hinter sich lässt, dabei aber auch selbst Verluste erleidet. In frontaler Konkurrenz, Spekulation und Korruption entstehen ungünstige Verluste. Auch wenn es einen SIEGER gibt, werden die Verluste in die Zukunft verschoben – und kehren von dort zurück.
- Lose-Lose-Spiele, in denen BEIDE Parteien
verlieren. Neben verheerenden Ehescheidungen ist der Krieg das
Beispiel für ein doppeltes Verlustspiel. Krieg ist immer eine
Vernichtung von Weltpotential, bei der auch der Sieger verliert.
Allerdings können sich auch Kriegsgeschehen asymmetrisch umkehren.
Durch kathartische Prozesse entstehen neue Selbstorganisationen,
aus Chaos und Zerstörung entsteht – irgendwann – neue Ordnung.
Aus Tod entsteht Leben.
Aus Verlust entsteht neue Zukunfts-Energie.Tit for Tat: Wie Du mir, so ich Dir, revisited
Anatol Rapoport (1911-2007) emigrierte als 11-jähriger aus dem heutigen Losowa in der Ukraine in die USA, er lebte in Chicago und Wien.
Er war Musiker, Mathematiker, Systemwissenschaftler und Philosoph, dazu noch Psychologe und Biologe. Rapoport legte die Grundlagen der angewandten Spieltheorie und teilte „Spiele“ in mehrere Dimensionen auf:
- Kampf („fight“): Gewalttätige Auseinandersetzung, endet mit der Unterwerfung oder physischen Zerstörung des Verlierers.
- Spiel („game“): Kräftemessen nach festen Regeln, endet mit der freiwilligen Aufgabe eines Teilnehmers.
- Debatte („debate“): Versuch, das eigene Normen- und Wertesystem auch dem Gegenüber schmackhaft zu machen.
Kriege sind verschlungene Mischungen aus allen drei Komponenten. Die von Rapoport formulierte Tit-for-Tat-Strategie bildet einen wesentlichen Kern der erweiterten Spieltheorie, die auf Konfliktlösungen abzielt. Dabei geht es darum, die inneren Konstruktionen des „Gegners“ zu verstehen und zu integrieren. Die beste Strategie, die langfristig am meisten Erfolge zeigt, ist eine „positive Reaktionsstrategie mit eingebauter Flexibilität“. Sie beinhaltet zwar das Prinzip der Reziprozität „Auge um Auge, Zahn um Zahn: Tue anderen so, wie sie dir getan haben.“
Aber auch der beschränkten Vergeltung, um Strafen gering und Belohnungen hoch zu halten, unabhängig davon, wie das Gegenüber sich verhält.
Die Strategie hat außerdem die Regel, zu Beginn einer
Interaktion auf jeden Fall kooperativ zu handeln.
Tit for Tat plus ist eine freundliche Strategie mit klaren
Reaktionen:
- Nettigkeit: Man beginnt das Spiel immer kooperativ.
- Provozierbarkeit: Auf unkooperatives Verhalten der Gegenseite folgt Vergeltung. Auf kooperatives Verhalten wird mit Kooperation geantwortet.
- Nachsichtigkeit: Sobald die andere Partei nach einer Defektion wieder Kooperationsbereitschaft zeigt, nimmt man die Kooperation wieder auf. Trenne in Konflikten immer Person und Verhalten!
- Klarheit: Durch die Einfachheit der Strategie ist das eigene Verhalten leicht berechenbar.
Siehe auch: Robert Axelrod, Die Evolution der Kooperation, 2000
6. Das Spielfeld erweitern
Was also ist „Siegen”?
Das ist ein bisschen kompliziert. Seit der der Zeit der
„symbolischen Schlachten”, als wohl-geordnete Heere in Reih und
Glied aufeinander zumarschierten und irgendwann der Sieg
„ausgezählt“ wurde (headcount, meistens sogar in Übereinkunft der
Kriegsparteien), sind lange vorbei.
Kriege sind heute nicht nur materielle „Events“, in denen
Menschenleben und Material der Einsatz sind. Kriege sind
symbolische, politische, mentale, semantische Geschehen, die weit
über das Schlachtfeld hinausreichen. Im hypermedialen Zeitalter
werden sie vor allem als DISKURSE begonnen oder beendet.
Die Angriffs-Kriege der vergangenen Jahrzehnte – spätestens seit
Vietnam – wurden stets ASSYMETRISCH VERLOREN – wobei
Öffentlichkeiten, „public opinions“, eine wichtige Rolle spielten.
Überlegene Feuerkraft führte dabei immer ins Desaster, in die am
Ende klägliche Niederlage. Das haben besonders die Amerikaner
erfahren, in Vietnam, Irak, Somalia, Afghanistan. Und endgültig in
Syrien. Seit dem Irak-Desaster hat die Supermacht Amerika keinen
Interventionskrieg mehr geführt.
Aus Amerikas Niederlagen hat das russische Militär viel gelernt.
Auch Russlands militärische „Siege“ – Grosny, Syrien etc. –
entstanden aus asymmetrischer Verschiebung. Dazu gehörte die
Strategie, die Regeln des internationalen Rechts gnadenlos
auszuhebeln. Der russische „Barbarismus“, in dem Kindergärten und
Krankenhäuser angegriffen werden und jede Grausamkeit grundsätzlich
der Gegenseite angelogen wird, besteht aus bewusstem Regelbruch.
Und ist sehr erfolgreich. Brutalisierte Gewalt gegen die
Zivilbevölkerung setzt den Gegner und seine Verbündeten nicht nur
in Angst und Schrecken. Sondern in ein schreckliches Dilemma: Das
Paradox der reziproken Eskalation.
Jeder Gegenangriff führt zu einer Verschrecklichung der
Situation.
Jedes Zögern ebenfalls.
Jede Zurückhaltung ist Verrat am Menschlichen, Humanitären.
Jede Entschlossenheit auch.
Wenn man die Unterlegenen stärkt, vermehrt man den Blutzoll.
Man macht sich schuldig.
Wenn man sich heraushält, vermehrt man den Tod und die
Verzweiflung.
Man macht sich schuldig.
Wenn man einen Krieg tatsächlich gewinnen will, muss man das Spielfeld erweitern. Man muss das „level playing field“ auf eine höhere Ebene verlegen. Und neue Mitspieler und Verbündete finden.
- Die weltweite öffentliche Meinung.
- Die Interessen anderer Länder.
- Globale Akteure der Zivilgesellschaft wie UNO, NGOS, Internationale Organisationen.Die Kraft von Kunst und Kultur.
- Kulturelle und religiöse Institutionen.
- Die Lösungen neuer Kapitalinteressen und Technologien (Die Energie-Revolution).
Das Einzige, was diesen Krieg wirklich mit einer Niederlage
Russlands beenden könnte, wäre eine überwältigende globale Mehrheit
gegen den Krieg. Eine aktive, beharrende, entschlossene
Welt-Mehrheit für die Einhaltung oder Wiederherstellung des
Völkerrechts.
Das ist aber nicht möglich, solange die vielen
Völkerrechts-Verletzungen der Supermacht Amerika im Raum stehen,
ohne bearbeitet und verziehen worden zu sein. Denn der Vorwurf der
Doppelmoral ist die eigentliche semantische Waffe in diesem
Krieg.
Die ukrainische Regierung hat, im Zusammenspiel mit der
ukrainischen Zivilbevölkerung, bereits eine äußerst kluge
Symbolpolitik betrieben. Sie hat auf unvergleichliche Weise die
Selbstorganisations-Kräfte der Bevölkerung mobilisiert. Die Ukraine
spielt ihre erfolgreichsten Spiele nicht auf dem Schlachtfeld,
sondern im kollektiven Wahrnehmungsraum. In den globalen MEMEN, den
Inszenierungen der Widerstands-Empathie. David gegen Goliath, ein
Kampf auf dem moralischen Spielfeld.
Für den Frieden jedoch ist die Moral eine ungünstige Währung. Sie
wirkt ja immer auf beiden Seiten, dient als Bestätigung,
Rechtfertigung, ja Begründung der Gewalt.
7. Die dunkle Resonanz
Die acht Szenarien, die ich in Kolumne Nr. 92 beschrieben habe,
verdichten sich immer mehr zu einem wahrscheinlichen Verlauf. Die
östliche Ukraine wird besetzt, durch eine Orgie der Zerstörung, in
der das russische Militär noch einmal alle seine
Grenzüberschreitungen vorführt.
Wie weit das gehen wird, wissen wir nicht.
Hier rollt der historische Würfel des Zufalls.
Die Zerstörung wird dann als Sieg verkauft werden.
Doch die Eroberung eines auf Jahrzehnte verseuchten und verminten
Ruinen-Trümmerfelds, das man selbst erzeugt hat, erfordert einen
hohen Preis. Eine gigantische Minus-Rechnung muss in einen Triumph
umgedeutet werden.
Damit könnte sich das Imperium, wie schon viele Imperien zuvor,
überheben.
In Andrei Tarkowskis dystopischem Film STALKER reisen drei Personen in eine
radioaktive Landschaft, die den Ruinen von Mariupol oder der Zone
von Tschernobyl ähnelt.
Alles schimmelt, rostet, dampft. Irgendwo in dieser ruinösen Landschaft soll sich ein Raum befinden, in dem alle Wünsche endlich erfüllt werden. Man muss sich in diesem Raum nur das wünschen, was man wirklich will. Die Reisenden erreichen diesen Raum nie. Sie vergessen unterwegs, was sie sich wünschen könnten. Sie zerstreiten sich darüber, was überhaupt wünschenswert sein könnte. Und ob man diesen Raum nicht lieber zerstören sollte. Weil er gefährlich ist.
8. Cyber-Nations
Zu den Erweiterungs-Optionen des Spielfelds gehört auch das, was
man die ankommende Emigration nennen könnte. Aus Vertreibung wird
dann Migration.
Vertreibung ist immer ein schrecklicher Heimatverlust. Aber es kann
auch ein kreativer Welt-Zugewinn werden. So, wie die jüdischen
Künstler und Intellektuellen, die Wiener und Berliner Physiker und
Naturwissenschaftler im Zweiten Weltkrieg „den Westen“
bereicherten, werden Millionen Ukrainer UND Russen zu einer
globalen Bereicherung führen. Der größte Kriegsverlust Russlands
ist der „brain drain“, der Verlust von unfassbar vielen Talenten,
humanen Potentialen, kreativen Menschen. Der zweite Weltkrieg wurde
nicht zuletzt dadurch entschieden, dass Millionen von Menschen in
ihren Aufnahme-Ländern große Potentiale von Wissen, Energie und
Wandel freisetzten.
Hier könnte das vielgerühmte „Metaverse“ endlich einmal zeigen, was
es kann. Stellen wir uns vor: In einer neuen CYBER-NATION tun sich
die Dissidenten Russlands UND die Vertriebenen der Ukraine
zusammen. Solche virtuellen Neu-Staaten können im 21. Jahrhundert
reale Machtpotentiale entwickeln. Sie können intensiv auf die
Ursprungsländer zurückwirken. Das virtuelle Territorium wird
wichtiger als das physische Territorium. Die Besatzung wird
sinnlos. Sie scheitert an sich selbst.
9. Bewaffneter Pazifismus
Vielleicht lässt es sich nicht verhindern, dass die Ukrainer nun
SCHWERE WAFFEN erhalten. Manchmal entwickeln sich die Dynamiken in
einer Weise, in der sie nicht aufzuhalten sind.
Die buddhistische Lebensweisheit geht von einer wichtigen Differenz
zwischen MITLEID und MITFÜHLEN aus. Während Mitleid immer auch
einen narzisstischen Aspekt hat – es zieht uns in das Leiden und
die Angst mit hinein, es bindet uns an unsere affektive Reaktion –
führt Mitgefühl zu einer Zuneigung, in der wir in Empathie einen
kühlen Kopf bewahren können.
Auch dieser Krieg wird nur asymmetrisch zu gewinnen sein.
Wenn „wir“ den Ukrainern schwere Waffen liefern, nehmen wir ihnen
womöglich ihre wahre Möglichkeit auf Erfolg. Es könnte sein, dass
wir ihren asymmetrischen Sieg verhindern, indem wir sie ihrem
Gegner angleichen.
Zum Siegen gehört auch, auf die richtige Weise verlieren zu
können.
Um dann auf einer neuen Ebene weiterzukämpfen.
Die Re-Militarisierung, die wir in Europa nun vollziehen müssen,
kann nicht in die alten Militarisierungsformen zurückführen. Die
Finnen haben das schon lange verstanden, ebenso wie die Letten und
Litauer, oder die Schweizer. Ein bloßes „Gegenrüsten“ auf derselben
Ebene ist sinnlos. Eine Gesellschaft jedoch, die sich mit
Hightech-Defensiv-Waffen und heller Entschlossenheit ihr Land für
jeden territorialen Aggressor „unsinnig“ machen kann, ist die
richtige Antwort auf das Ende der nuklearen Abschreckung.
Individualismus, Vitalität, politische Freiheit, Innovationskraft,
Zivilität und Verteidigungsfähigkeit können erstaunlicherweise
zusammengehen. Wie die Ukraine, aber auch das Beispiel Israel – in
großen Teilen – zeigen.
Hoffen wir also auf asymmetrische Weisheit.
Hoffen wir auf die Klugheit unserer Politiker, in diesem Konflikt
in Sinne von Nicht-Nullsummen-Spielen zu agieren.
Dazu bedarf es des wiederholten Ebenenwechsels.
Vertrauen wir auf die menschlichen Fähigkeiten, in großer Paradoxie
innere Klarheit zu behalten.
Das Spiel auf einer höheren Ebene zu spielen.
Eine Verhandlungs-Streitmacht zu entwickeln.
Hoffen wir auf eine neue Poesie des Friedens.
Ein Spielfeld, das sich aus der Zukunft heraus entfaltet.
P.S.:
Dieser Text bezieht sich auf eine Unmenge kluger und weniger kluger
Gedanken in der momentanen Kriegsdebatte. Sehr wertvoll war ein
Interview mit dem ehemaligen Pazifisten Arvid Bell, der heute eine
„Negotiation Task Force“ an der Harvard University führt, die die
Rolle von Verhandlungsstrategien in internationalen Konflikten
erforscht („Der Westen nimmt sich wichtiger, als er noch ist“, ZEIT
online 17. April 22). Und ein Hinweis auf den wunderbaren Text
„Ukraine is our Past and Future“ des Journalisten und
Filmproduzenten Peter Pomerantsev, veröffentlicht in TIME
Magazine, 6..4.22:
Once again, Ukraine is making us rethink our values, our laws,
our policies, our defense. This war is not just a problem you can
localize to Russia-Ukraine. There’s an increasingly coordinated
network of dictatorships and soft authoritarians who think the 21st
century belongs to them. Working out how to help Ukraine win is the
first step to fathom this defining question. As so many times a
global fault-line in our thinking, one that we wanted to ignore, is
being made apparent in Ukraine. The Ukrainian writer Igor
Pomerantsev once defined poetry as a bat flying through the night
suddenly illuminated in the flashlight of our focus. That metaphor
can apply to politics as well. Ukraine is the place where the
invisible is surfaced, where the suppressed will be remembered,
where horror is made into meaning. For their freedom and
ours.
www.time.com
Geboren in Kiew, aufgewachsen in Deutschland, lebt Peter Pomerantsev heute in London. Er ist Autor des Buches “Nothing is true and everything ist possible” und “This Is Not Propaganda: Adventures in the War Against Reality”.
Ein großes Dankeschön an Matthias Horx für den interessanten Beitrag und die freundliche Erlaubnis ihn teilen zu dürfen!
Ich hoffe, es hilft Dir vielleicht wieder etwas mehr mit Mitgefühl auf den Konflikt zu schauen und dabei dennoch aktiv und handelnd zu bleiben, statt im Dunkel zu versinken.
Alles liebe und bestmögliche Gesundheit wünscht Dir,
Nele