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MS-Perspektive - der Multiple Sklerose Podcast mit Nele Handwerker


May 16, 2022

Katherine Hentzschel beantwortet meine Fragen zur Neuropsychologie und welche Relevanz sie bei der Diagnose und Behandlung von MS hat.

Coverbild zur Bedeutung der Neuropsychologie bei MS

Heute ist Katherine Hentzschel, leitende Neuropsychologin am Carolinum Dr. Ebel Fachkliniken in Bad Karlshafen, zu Gast bei mir im Interview. Sie gibt einen Einblick in den Fachbereich der Neuropsychologie und welche Bewandtnis er für die Diagnose und Behandlung von MS-Symptomen hat.

Du erfährst, welche Möglichkeiten und Grenzen die Neuropsychologie hat, welche Untersuchungen dazu gehören und wann es Sinn macht für eine Check zum Neuropsychologen zu gehen.

Erfahre mehr über diesen spannenden Bereich. Schließlich führen kognitive Probleme bei MS häufig zu Einschränkungen im Leben. Information und rechtzeitiges Entgegenwirken können Dir helfen, die Auswirkungen zu minimieren.



Vorstellung

Ich bin ledig, gerne draußen im Garten oder Mountain Bike fahren, lese gerne alles von Klassikern bis Psychothrillern und ich liebe Hunde. Leider habe ich aufgrund der Arbeit keinen, aber zu Studienzeiten hatte ich einen Dackel 🙂

Ausbildung & wichtigste berufliche Stationen

2014 habe ich das Psychologiestudium abgeschlossen und anschließend ein Jahr Work-and Travel in Neuseeland gemacht. Es folgte eine 3-jährige Weiterbildung zur Klinischen Neuropsychologin. Anschließend arbeitete ich in einer Klinik für neuropsychologische Frührehabilitation. 2019 begann ich meine Approbation (Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin). Dadurch startete ich meine Arbeit in der Psychiatrie in einer geschützt geführten Station. Und ich war 2 Jahre ganztags in der ambulanten medizinischen und beruflichen Rehabilitation für psychisch Kranke (auch neuropsychologische Patienten) tätig. Dabei ging es um die soziale und berufliche Reintegration der Teilnehmer bis zu 1,5 Jahre. Zusätzlich machte ich traumatherapeutische Fortbildungen im Rahmen der Jahresgruppe sowie von Sonderseminaren (Organisierte Ausbeutung) bei Michaela Huber.

Portraitfoto von Katherine Hentzschel, Interview zur Bedeutung der Neuropsychologie bei MS

Allgemeines zur Neuropsychologie

Was ist Neuropsychologie? Womit beschäftigt sich dieses Wissenschaftsgebiet?

Die Neuropsychologie beschäftigt sich mit kognitiven und emotional affektiven Funktionen und deren Auswirkungen auf das Verhalten. Die neuropsychologische Therapie ist eine wissenschaftlich begründete psychologische Therapie. Es erfolgt eine systematische Untersuchung von verschiedene Funktionsbereichen, wie z.B. Aufmerksamkeit, visuelle Wahrnehmung, Neglect, Gedächtnisstörungen, exekutive Störungen, Rechenstörungen, motorische Störungen, Neurolinguistik, Krankheitseinsicht und –verarbeitung, Verhaltensstörungen, affektive und emotionale Störungen.

NeuropsychologInnen haben ein 5-jähriges Psychologiestudium absolviert. Zusätzlich folgte eine Weiterbildung mit 3-jähriger beruflicher Tätigkeit mit 100 Stunden Supervision sowie 400 Stunden Theorie mit Spezialisierung auf Diagnostik und Therapie von Patienten mit Verletzungen oder Erkrankungen des Gehirns. Zudem gibt es in der Weiterbildung die schriftliche Dokumentation von Behandlungsfällen und nach einer mündlichen Prüfung wird das Zertifikat „Klinischer Neuropsychologe GNP“ verliehen. Viele Kollegen sind auch approbierte Psychologische Psychotherapeuten, was eine Voraussetzung für die Kostenübernahme einer ambulanten neuropsychologischen Therapie darstellt.

Mittels welcher Untersuchungen können Defizite gemessen werden?

Um eine Aussage treffen zu können, ist es wichtig sich ein umfassendes Bild zu machen. Dies geschieht mit Hilfe von:

  • der Anamnese, also: geschilderten Beschwerden, Lebensgestaltung, Familie, Beruf, etc.
  • der Fremdbefunde und Fremdanamnese
  • der Verhaltensbeobachtung „klinischer Befund“, psychopathologischer Befund
  • der Psychometrische Untersuchungen

Wie ist das weitere Vorgehen, falls Defizite festgestellt werden?

Es werden neuropsychologische restitutive und kompensatorische Therapiemaßnahmen mit Einbezug von integrativen Verfahren eingeleitet.

Restitution bedeutet „Training des Gehirns“, durch hochfrequentes Training und störungsspezifische Wiederholungen der Übungen.

Kompensation steht für den Einsatz von Ersatzstrategien, d.h. beeinträchtigte kognitive Funktionen werden durch z.B. externe Hilfen, Anpassungen des Arbeitsplatzes und der Arbeitsbedingungen ausgeglichen, um Überforderung und somit Chronifizierung von möglichen psychischen Erkrankungen zu vermeiden.

Bei den integrativen Verfahren werden psychotherapeutische Interventionen im Einzel und Gruppensetting oder/und mit Einbindung der Angehörigen eingesetzt.

Wie aufwendig ist eine neuropsychologische Therapie?

Da individuelle Behandlungsansätze nicht pauschalisiert werden können und sollten, kann man eher von mehreren Monaten ausgehen.  

Welche Erfolge sind möglich und wo liegen die Grenzen der neuropsychologischen Therapie?

Das übergeordnete Ziel ist die soziale und berufliche Integration oder Reintegration.

Wir können nicht über Grenzen reden bei einem Fach, das noch nicht mal etabliert ist. Das ist so als ob man über einen 3-jährigen spricht und fragt, wo ist das Ende seiner Kariere. Wir sind erst am Aufbau, also die Grenzen liegen nicht in der Behandlungsmethode, sondern an den Umgebungsfaktoren.

Eigentlich ist die Neuropsychologie mit der neuen Weiterbildungsverordnung gut aufgestellt, allerdings bedarf die Umsetzung einer ganzen Menge Einsatz von alten und neuen Kollegen.

Neuropsychologie spezifisch für MS-Patienten

Welche typischen Probleme treten bei MS-Patienten auf aus Sicht der Neuropsychologie?

Aus Sicht der Neuropsychologie gibt es zwei Bereiche:

  • Beeinträchtigung der Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen, Exekutivfunktionen (planerisches Denken, Arbeitsgedächtnis, Produktivität), visuo-räumliche Wahrnehmung (eher geringer Anteil: Studie Gil Moreno et al., 2013).
  • MS-assoziierte Depression und Fatigue.

Das neuropsychologische Leistungsniveau kann sich interindividuell unterschiedlich darstellen. Das hat zu tun mit interindividuell unterschiedliche Ausprägung der kortikalen Läsionslast und unterschiedlich ausgeprägtem Kompensationspotential.

Wie viele Untersuchungen müssen durchgeführt werden und sind Wiederholungen nötig, um ein genaues Bild zu erhalten?

Wie bereits zuvor erwähnt sind individuelle Behandlungsansätze notwendig, unter Einbezug der psychosozialen Situation und der Kontextfaktoren. Dafür benötigt es eine umfassende Untersuchung.

Was kann die Neuropsychologie im Rahmen einer Reha leisten und wie geht es im Anschluss an die vier Wochen weiter?

Im Rahmen der stationären Rehabilitationsmaßnahme ist es möglich eine ausführliche neuropsychologische Diagnostik sowie theoriegestützte Trainingsprogramme, überwiegend PC-gestützte Trainings, durchzuführen.

Dabei können wir die jeweiligen Ressourcen und Strategien zur Kompensation sowie der Kontextfaktoren evaluieren. Anschließend erarbeiten wir individuelle Behandlungsziele und vermitteln Grundkenntnissen (z.B. Pausenmanagement, Tagesstrukturierung) und Psychoedukation. Auch achtsamkeitsbasierte Interventionen gehören dazu. Außerdem nehmen wir eine sozialmedizinische Beurteilung (berufliche Leistungsfähigkeit) vor, und an der Stelle spielt die Neuropsychologie eine wichtige Rolle.

Wie sieht die Therapieempfehlung bei MS aus? Geht es um eine einmalige Therapie oder kann eine regelmäßige Wiederholung sinnvoll sein?

Ganzheitlicher Ansatz ist grundlegend, also nicht nur das Gehirn zu sehen und die Medikamentengabe, sondern die Berücksichtigung der psychosozialen Situation des jeweiligen MS-Patienten mit Bezug auf die Kontextfaktoren.

Wann sollten sich MS-Patienten an einen Neuropsychologen wenden, bei welcher Art von Problemen, die ihnen im Alltag auffallen?

Es gibt viele mögliche Auslöser um die Unterstützung der Neuropsychologie in Anspruch zu nehmen. Um einige Beispiele zu nennen:

  • Faden verlieren, Konzentrationsspanne vermindert, Ablenkbarkeit, Ermüdung, Auffassungserschwernis, Namensverluste, Wiederholungen, Kalenderbenutzung, Lücken in der Krankengeschichte/Biografie, Termine vergessen, Impulskontrolle/Enthemmung, Verbal- oder Handlungsaggressionen, Affektlabilität (mit Euphorie und Agitiertheit), Affektverflachung/Gleichgültigkeit, depressive Symptome, Angststörungen, etc.

Wie findet man einen geeigneten Neuropsychologen und braucht man eine Überweisung vom Allgemeinarzt oder Neurologen?

Dafür benötigt man keine Überweisung. Die ambulanten Kollegen sind zertifizierte klinische Neuropsychologinnen durch die Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP) sowie approbiert. Auf der Homepage www.gnp.de finden sich unter Behandlerliste eine Übersicht der Neuropsychologinnen.

Welchen Durchbruch in der Forschung oder Behandlung von Patienten der Neuropsychologie wünschen Sie sich in den kommenden 5 Jahren?

Die Neuropsychologie ist gut erforscht und die Säulen sind klar, da es individuelle Behandlungsansätze sind. Außerdem stehen die neuropsychologische Behandlungsformen.

Wir brauchen in der Integration einen Durchbruch!

Wichtig ist vor allem, dass die Neuropsychologie im ambulanten Sektor und in der Versorgung der Patienten etabliert wird, denn den Patienten ist nur geholfen, wenn sie eine Behandlung bekommen. Das ist für mich die wichtigste Entwicklung, die passieren sollte.

Hier ein Buchtipp: „Psychoneuroimmunologischen Ansätze und Psychotherapie“ von Ch. Schubert. Herr Schubert forscht auf medizinischer Ebene, distanziert sich von der Molekularmedizin und bis hin zu neuropsychosozialen Ansätzen.

Blitzlicht-Runde

Vervollständigen Sie den Satz: „Für mich ist die Multiple Sklerose... “

„…eine Erkrankung die endstigmatisiert werden sollte. Es sollte darüber frei gesprochen werden können, nicht geschwiegen und ohne das man sich schlecht fühlen muss, weil man diese Diagnose hat. Stattdessen sollten die Menschen aktiv eingebunden werden.“

Wo können sich Patienten über die Neuropsychologie informieren, wenn sie mehr erfahren wollen?

Wie lautet Ihr aktuelles Lebensmotto?

Stichwort: Lebensqualität.

Mit welcher Person würden Sie gern einmal ein Kamingespräch führen und zu welchem Thema?

Andreas Kieling. Ich würde gerne über seine Abenteuer und seine Begeisterung für die Natur sprechen.

Welches Buch oder Hörbuch, das Sie kürzlich gelesen haben, können Sie uns empfehlen und worum geht es darin?

Vor kurzem habe ich „Kielings kleine Waldschule“ gelesen, kann ich nur empfehlen. Auch alle anderen Bücher von ihm haben mich fasziniert und inspiriert.

Verabschiedung

Möchten Sie den Hörerinnen und Hörern noch etwas mit auf dem Weg geben?

Passen Sie gut auf sich auf!

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Vielen Dank an Katherine Hentzschel für die Einblicke in die Grundlagen der Neuropsychologie und welche Rolle sie bei der MS spielt!

Also, wenn Du Probleme mit geistigen Fähigkeiten hast oder von Fatigue oder Depression betroffen bist, dann schau auf der Seite der Gesellschaft für Neuropsychologie vorbei und lass Dich durchchecken. Nur wer das Problem kennt, kann gezielt nach Lösungen schauen.

Ich wünsche Dir bestmögliche geistige Gesundheit,
Nele

Mehr Informationen rund um das Thema MS erhältst du in meinem kostenlosen MS-Letter.

Hier findest Du eine Übersicht über alle bisherigen Podcastfolgen.